kungsleden (2023) – rakt fram 7/25

tag 7: saltaluokta – sitojaure (6.7.)

(c) kaschpar

2. etappe

(c) kaschpar

ich gehe einfach weiter. wird schon gut gehen. ich beginne auch mal komplett anders. ich gehe morgens vorm frühstück raus ans wasser + kneippe + schicke der mutter 1 bild. ich habe gestern das wlan schon ausgenutzt, es wird wieder der letzte kontakt für ein paar tage sein, der flugmodus tut mir gut. die vielen fotos, die ich schieße, wenn ich nicht mit oder unter leuten unterwegs, sehen alle gleich aus, weil ich so langsam vorankomme.

am buffet bin ich um 7 uhr die 1. + schöpfe 1 warme masse gröt in meinen teller + auf 1 zweiten alles, was es sonst noch gibt. bis die nächsten erscheinen, bin ich fast fertig, nur der kaffee kommt so spät, dass ich noch 1 rechercherunde ranhängen muss. ich kaufe nochmal im shop ein, wo heute jemand anderes an der kasse sitzt: meine teebeutel gehen zur neige + ich muss den spülmittelgeschmackschwarztee kaufen. alles können sie, die schwed*innen, bulle+kåka+kex (schnecken+kuchen+kekse) – nur keinen tee oder kaffee. obwohl ich meine begrenzten taschen gestern schon aufgefüllt, schöpfe ich heute nochmal nach, als ob mich das motivieren würde. tuts auch, der sportlunch auf jeden fall.

wunden werden narben

die schwellung ist vom letzten fingerglied aufs gelenk gerutscht. habe ich erwähnt, dass es der zeigefinger ist? wenn ich jetzt beim schreiben auf die hände kucke, sieht man links nur noch 1 zarte delle: die neu gewachsene rosa haut, die dicker+widerstandsfähiger als die alte, die aber nicht die alte struktur erneuert, sondern 1 neue draufgesetzt hat, für immer sichtbar. 1 narbe wie die am linken ringfinger, innen letztes glied, wo ich die flasche ausm boden im fußballfeld (wo wir sonntags getränke verkauften + später die leeren flaschen einsammeln mussten, weil die wenigstens dran dachten, sie zurückzubringen: “die können ja auch was tun für ihr geld”) rausziehen wollte, indem ich sie mit 1 anderen dagegenklopfend lockerte + dabei 1 von beiden zerschlug + mir 1 scherbe reinrammte. wie die schramme am kinn, die ich vielleicht 5-jährig mitm rasiermesser des vaters erzeugte, vermutlich 1 kindlicher kontaktversuch, der damals schon blutig endete.

jede begegnung ist 1 challenge

ich höre beim durchgehen unterm saltaluokta-kungsleden-schild schwyzerdütsch reden + rufe überrascht: “oh schweizer dialekt”, weil ich einfach was sagen will/das paar auch mit anderen gesprochen hat/der heroinnutzende exfreund, der sich zum stalker entwickelte + nach der trennung meine hiv-infektion in meinem dorf kundtun wollte, schweizer war. anstatt mich hinter 1 “hej god morgon” zu verstecken, gebe ich mich als bayerin zu erkennen. wir plaudern kurz, dann treten sie zur seite, damit ich mitm morgens schmerzbefreiten zügigen schritt vorbei kann.

zack – schlage ich 1 übersprungshaken mit meinen stöcken, die ich in der linken fingerhand gar nicht so gut halten kann – ich spreize den wehfinger ab – und stürme den parallelweg hinauf, der wie im wanderführer angekündigt 1 der vielen verwirrenden abzweigungen am abhang ist. ich bin aufm winterweg gelandet, kann aber jetzt nicht mehr zurück, weil ich bin allein unterwegs + kenne mich aus. es stimmt ja auch, kann ich mir sagen: mit g. bin ich 2014 den sommerweg hinauf, jetzt kann ich die andere strecke bis zum gipfel testen, wo beide wege sich kreuzen.

(c) kaschpar

jede begegnung löst 1 innerliche debatte aus: nehmen mich die anderen so an wie ich bin? gehöre ich dazu? werd ich abgelehnt? obwohl ich jeder hiv-broschüre sätze wie “vielleicht wirst du von anderen abgelehnt” rausstreiche, wenn ich sie in die finger bekomme, weil ich nach so vielen jahren nichts schlimmer finde als vorweggenommene katastrophen, die vielleicht nie eintreffen werden: nur keine ängste in die köpfe pflanzen!, bin ich selber nicht frei von all den erfahrungen, nicht nur mit hiv. menschen machen mir soziale lücken deutlich, die ich ständig bemüht bin zu kitten. meine übersprungslacher+handlungen zeigen, dass ich 1 tief verwurzelten wunsch habe dazuzugehören, das sensible mobbingkind aber läuft allen ausm weg.

noch 1 anstieg

als ich den berg hinaufsteige, an den ich mich ganz anders erinnere, denke ich an die tour mit g. zurück, die ich hier erst irgendwie nebenbei, später intensiv aufarbeite. dabei gehts mir nicht um die beziehung zu ihm, sondern um die person, die ich damals war. “ich war schon so viele menschen”, steht auf meinem blog + nichts gilt stärker als das: wenn wir dranbleiben, können wir uns immer weiter verändern -> entwickeln = den knoten, den uns die herausforderung, in diese welt geboren zu sein, aufgezwungen hat, aufdröseln+lösen. ich kann unabhängiger werden+sein, selbstständig. dinge alleine unternehmen. ich sein. mit mir. nicht so abhängig davon, was mit anderen personen ist, was diese tun. das kann ich noch lernen. mich nicht zu verlieren im draußen/anderen. bei mir bleiben. so kann der weg heilsam+reinigend sein.

im übrigen ist habe ich schönstes sommerwetter, nicht wolken oder gar regen wie wie damals – auch tacksamhet (dankbarkeit) ist 1 hilfreiche lebenshaltung, die man täglich üben/schreiben kann.

der 1. stein

noch bin ich nicht so weit, ich spüre die anderen, denen ich gerade begegnet, im nacken + hutze1 hinauf, während aus der vergangenheit die 2014-er tour stückfürstück stärker in meine schritte fließt. die schweren aufstiege werde ich vergessen haben, die ausstattung der sitojaure-hütte, wo uns das essen ausging, ebenso. in aktse könnte der stugvärd derselbe geblieben sein. das verlaufen nachm bootstransfer dahinter scheint mir in die knochen geschrieben, die von alleine ihren weg nehmen. die brücke vor pårte, wo wir raseteten, oder das letzte stück nach kvikkjokk hinunter werde ich die gesamte zeit suchen, aber nicht wiederfinden.

aber nichts ist mir so eindrücklich wie dieser stein, bei dem ich das 1. mal die neue (schlechte) kamera gezückt, mit der ich seit kurzem begonnen hatte, fotos zu machen. 2010 habe ich mitm blog angefangen, um des schreibens/mitteilens willen, dann kamen die kuriositäten der großstadt hinzu, viel müll+ruinen, erst in den letzten jahren werden die fotoqualitäten besser (nicht, weil ichs gelernt, sondern die handytechnik sich perfektioniert) + die ansichten ästhetischer. ich hab keinen bock mehr auf dreck. die kamera hatte ich in sitojaure liegengelassen, in aktse mitm nottelefon angefragt. bis wir in kvikkjokk ankamen, war sie schon da: hatte 1 wander*in sie uns hinterher->vorausgetragen.

ich weiche nur ab, nicht aus

die strecke nach saltaluokta hatten g.+ich in 2 gleichgroße hälften geteilt + gezeltet. ich meine jetzt, mich zu erinnern + weiche ab vom weg, als ob ich die stelle wiederfinden möchte, als ob ich hier was verloren, was ich wiederfinden möchte wie 1 bild aus der verlorenen kamera. aber ich finde nur 1 altes ich wieder, das abhängige/anhängliche alkoholikerkind, das ständig seine umgebung auf potentielle cholerische ausbrüche hin prüft.

in wirklichkeit bin ich nicht abgewichen vom weg, um was zu suchen – das schiebe ich vor + erzähle mir die geschichte so, weil sie einfacher ist, als die wahrheit: ich weiche aus, weil ichs so gelernt, dass ich mich scheue vorm gegenüber, weils 1 schaden anrichten könnte in mir. mitten in der öden weite kommt mir 1 wander*in entgegen + keine ahnung, warum gerade jetzt, aber ich kann nicht den kopf heben + hallo sagen. monate später wird mir die umschreibung “1 grußauszeit nehmen” einfallen, die ich dafür verwenden kann. ich bin zu sehr mit mir beschäftigt + in alten ichs vergraben, als dass ich das heutige, offene, aufrechte aufsetzen kann.

have you lost your way?

wenn mich jemand fragen würde, warum ich neben der spur laufe, müsste ich antworten: “I left it on purpose” – aber warum? um mich nicht damit auseinanderzusetzen, red ichs mir schön: manchmal muss man den weg verlassen, um wieder zurückzufinden. abers ist wie in der therapie, wenn ich der therapeutin auf 1 frage irgendeine erklärung gab + sie daraufhin zurückfragte: “sind Sie sich sicher, dass es das war?”, + ich nochmal überlegen musste, obs stimmte, was ich gesagt. ob ich zufrieden mit der version. obs die “richtige” war. wie erkennt man den kern/den wahren grund 1 handlung, der vielleicht unbewusst wie 1 verdecktes muster alles denken/bewerten/handeln steuert? der kern ist da, sagt die frau wagner, wo das “schlimmgefühl” sitzt. man findet es, wenn man sich fragt: “was genau ist daran jetzt so schlimm?”

aber anstatt mich mitm schlimmgefühl zu belasten, lenke ich mich ab mit 1 leichteren version + schieße fotos von der aussicht am abgrund der aus/abweichung. leider sind sie nicht so spektakulär, dass der grund, den ich damit gehabt hätte für das ausscheren/den drift, 1 verlässlicher gewesen wäre. aus meiner richtung kommen 2 weitere wander*innen aufm richtigen weg heran + ich schließe die lücke so langsam, dass ich weit hinter ihnen zurück aufm sommerweg lande.

der 2. stein

(c) kaschpar

einige kilometer + 1 raststuga mit 1 schweigsamen jungen schweden + mehrere male gegenseitiges überholen mit den schweizer*innen weiter, finde ich 1 anderen großen stein für 1 pause. auch an diesen meine ich mich zu erinnern, weil er nach vielen weiten breiten meilen der einzige große klumpen in der flachen flur. hier muss es gewesen sein, dass g.+ich uns im strömenden regen verschanzten, weil g. nicht mehr weiter, sondern tee kochen wollte. wir waren längst außer kräften, obwohl die strecke 2-geteilt + wir gerade erst das zelt abgebaut, aber die eiseskälte im alles verdunkelnden regen, keine aussicht auf besserung, vollkommen durchnässt: da wird so 1 ausflug schnell existentiell. ich aber konnte nicht lange im regen hocken + verzweifeln, ich musste aufstehen + g. anschreien: weiter! weiter! ich weiß nicht, ob ich 1 großen lebenswillen in mir trage, um schöne ziele zu verfolgen. aber 1 survival2-trieb hab ich, der peitscht mich voran.

heute surren die moskitos in schwärmen um meinen kopf + ich versuche im meditationsmodus alle zu ignorieren. dem franzosen gegenüber, den ich heute abend treffen werde, und der im ganzkörpermoskitonetz + plastiktüten über den schuhen allem umweltkontakt den kampf angesagt hat, schwöre ich, dass das helfen würde: innere haltung. aber lang halt ichs auch nicht mehr aus + irgendwann tick ich aus + morde so viele mücken wie möglich. (entschuldigung!) vielleicht bin ich da schon nicht mehr ganz zurechnungsfähig, weil ich zu viel mückengift in mir habe. jetzt aber genieße ich noch die sonne + nicke den beiden männern mit den riesenrucksäcken, die ich seit abisko nicht mehr gesehen habe, zu, die gerade an mir vorbeigehen. alle sind schneller als ich, obwohl ich so früh losgehe.

schäden so far

  • beine zerstochen mit mückenstichen
  • sonnenbrand mit hautschälung auch aufm arm
  • aufn finger gehauen beim holzhacken (erzähl ich mir selbst in der heutigen tonbandaufnahme ganz natürlich, als hätt ichs schon verarbeitet + wäre schon 1 mit mir + meinem dilemma), offene wunde + schwellung, die jetzt überm knöchel die bewegung einschränkt
  • entzündete ferse (aufgefiedelt)
  • 1 art zeckenstich, der sich entzündet hat – nur mit fusidinsäure noch zu behandeln

no end

je länger ich sitze, desto müder werde ich, wie die bedienungen früher immer sagten: “hinsetzen darfst du dich nicht, sonst kommst du nicht mehr hoch”. schaffe ichs bis sitojaure oder zelte ich vorher? laut tonbandaufnahme meine ich, ich wäre nicht wirklich müde – es würde einfach nur so viel passieren. heute ist erst der 7. wandertag + schon bin ich voller eindrücke+erlebnisse. dazu die erinnerungen aus 2014 von dieser etappe, die mehr+mehr alles überlagern. im grunde kann ich in kvikkjokk auch nicht aufhören, sondern muss weitergehen – es (= meine eigene neue geschichte) darf hier nicht enden.

(c) kaschpar

entsetzt stelle ich stunden (?) später fest, dass es noch 3 km bis sitojaure sind – was? so weit noch? normalerweise dauert das keine 45 minuten, hier aber schaffe ich manchmal keine 2 km in 1 stunde. je nach bodenbeschaffenheit+fußbeschwerden. auch die letzten schneefelder sind lästige listige rutschpartiepisten, bei denen man nie weiß, ob/wie man durchkommt. am leichtesten läuft sichs über die bohlen, da schaut man fast gar nicht mehr hin. gehts nur darum, so schnell wie möglich (vor)anzukommen?

übern unterschied von quantität+qualität

komisch, aber wenn man 4 km/h plant, möchte man auch 4 km/h gehen. früher lief ich doppelt so schnell, 7-8 km/h + obwohl ich weiß, dass quantität nicht alles ist, steckt in ihr doch die meiste selbstwirksamkeit, kraft+stärke = unabhängigkeit. wie kriege ich das in die qualität hinübergerettet?

die haut über der schwellung wird dünn+spröde, ein wenig habe ich angst, dass sie reißt. ich musste schon öfter das pflaster wechseln + wenns so weitergeht, bin ich bald durch den vorrat durch.

kurz vor saltaluokta merke ich, dass ich den bootstransfer übern sitojaure auf die andere seite noch kriegen könnte. oho! ich frage den stugvärd, ob er wisse, obs auf der anderen seite zeltplätze gebe. er meint: ja, da könne man direkt am anleger zelten, aber obs weiter oben gehe, sollte ich die bootsleute fragen, die sámi kennten sich hier besser aus. sein kleiner sohn sitzt dick eingepackt im stuhl + kuckt weg, als ich hinsehe: I so feel you!, denn als die mutter mich im kinderwagen durchs dorf schob + die kinderlose “tante” ihren schädel vor meine nase schob, zog ich das köpfchen auch ein+weg, wie die mutter noch heute gerne erzählt, um mir zu zeigen, wie ich bin = schon immer war: das hast du als kind schon nicht gemocht.

das passiert mir nicht nochmal

(c) kaschpar

flexibel muss man sein, sich nicht an 1 plan hängen + was durchdrücken, sondern schauen, wies läuft, sich anpassen. ich koche mir gegen gebühr was zu essen in der hütte, die mir so fremd vorkommt, als wäre ich nie da gewesen. dabei saßen g.+ich hier ohne 1 vegetarische mahlzeit im rucksack + fragten, ob wir was kaufen könnten: “nein, hier doch nicht!” wir wurden zu den sámi geschickt, wos aber nur renfleisch gab, kein brot. nicht, dass wir gar nichts mehr gehabt hätten: für g. waren noch fleisch-meals übrig + snacks. spätestens seitdem ist mir klar, dass ich in der wildnis nicht überleben könnte. ich könnte mir nichts schießen.

(aber vorstellungen wie diese sind trügerisch, wenn sie im warmen wohnzimmer ausgesprochen werden. wer weiß, wies sein wird, wenn ich mal draußen allein frierend am hungertuch nagend 1 hasen gegenüberstehe. heute sage ich vielleicht: kein problem, ich will keine 80 werden. bevor ich ins pflegeheim komme, vertraue ich auf die bis dahin erfolgte regelung der sterbehilfe. aber wer weiß. vielleicht werd ichs 1 tags zufrieden sein, wenn ich nur die augen aufmache + daran denke, was mir zu essen ans bett gebracht wird.)

damals rief die stugvärd alle anwesenden auf, was sie an essen übrig hätten, mir zu geben. + da kamen sie von allen seiten, brachten couscous, blaubeersuppe + trocken-meals, die ich bezahlte, weil sie teuer waren, wie die stugvärd richtig betonte. das mädchen, das mir das meal verkaufte, war angehende soldatin + trainierte aufm weg fürn job. sie ging in die andere richtung + würde am nächsten tag saltaluokta erreichen. ich trage auch diese scham heute noch mit mir herum + auch die erinnerung an die leute, die später hereinkamen + über mein spärliches mahl aus couscous+blaubeersuppe die nasen rümpften: man müsse auch richtig essen nach so 1 langen tag. ich wollte das meal aber für morgen sparen. vielleicht kann ich auch deshalb heute nicht in dieser stuga bleiben. ich muss weitergehen. loslassen.

kontakt ohne konflikt

ich weiß, dass meine angst vor kontakten auf angst vor konflikten beruht + dass ich ihnen ausweichen will, als ob mit jedem k (kasper kaschpar!) 1 konfrontation auf mich zukäme. dabei komme ich hier eigentlich gut in kontakt, tue mich leicht mit plaudern mit fremden. das 1x treffen + weiterziehen ist nicht mein problem.

Mit der Objektivität des Fremden hängt auch die vorhin berührte Erscheinung zusammen, die freilich hauptsächlich, aber doch nicht ausschließlich, dem weiterziehenden gilt: dass ihm oft die überraschendsten Offenheiten und Konfessionen, bis zu dem Charakter der Beichte, entgegengebracht werden, die man jedem Nahestehenden sorgfältig vorenthält.. 

Georg Simmel, Exkurs über den Fremden

die regelmäßigkeit ists. nur sie macht aus 1 kontakt 1 beziehung.

die schweizer*innen kommen + wir unterhalten uns ein wenig übern weg, dann muss ich schon weiter zum boot. wies aussieht, bin ich momentan die einzige, die rüberfährt. ausm haus kommt 1 mann, den ich direkt anrede: “kör du båten?” (fährst du das boot?) er sieht mich verwundert an mit meinem schlechten schwedisch, lacht aber: “min fru kör båten” – meine frau fährt das boot. sie sei noch unterwegs, es ist 1/4 stunde vor abfahrtszeit, also setze ich mich + meditiere bzw. höre in den fuß hinein, was er mir zu sagen hat: er meckert.

jag tar båten (ich nehme das boot)

als das boot heranrauscht, sehe ich 1 zweijährigen mit großer oranger wasserschutzjacke hinterm steuer. beim einsteigen, was immer 1 gefahr für leib+leben, weil man mit rucksack+stöcken einfach zu viele ungleichgewichte bugsieren muss, stolpere ich fast über 1 korb, in dem 1 baby liegt. die bootsführerin ist sicher 10–15 jahre jünger als ich. ich kriege nicht nur 1 respekt, ich kriege 1 hochachtung. ich denke an die mutter, wie wir als kinder wohl in den körben mit aufm feld gelegen haben – aber nicht ohne sofort an die jüngere schwester zu denken, die, keine 10 jahre alt, mitm verletzten arm im auto warten musste, bis die ernte eingeholt, bevor sie zum arzt gefahren wurde, der 1 armbruch feststellte. oder an den tag, als sie, noch kleinkind, von der wickelkommode fiel, weil ich krank war + quengelte. was wir jahrzehntelang nicht wussten: dass die mutter das gestürzte baby zurück ins bett legte, mit mir zum arzt fuhr, und, als sie später zurückkam, von der oma genervt zu hören bekam: “die schreit immer so da oben”. da lag die schwester schon stundenlang allein mitm oberschenkelhalsbruch in der wiege. auch beim armbruch war ich beteiligt, weil wir gestritten hatten, bevor sie mitm fahrrad stürzte.

jetzt sehe ich die frau an + ihre beiden kinder, wie sie ihren job macht + ihren jungen mitnimmt, wie sie vermutlich von ihren eltern aufm boot mitgefahren ist. wie sie zusammen mit ihrem mann im sommer den ganzen tag, all die hellen stunden, mit den booten herumschippern, um die tourist*innen überzusetzen. im winter, so sagte mir ihr mann vorhin, als ich ihn für den småprat (smalltalk) fragte, sei es “kalt och mörk”. kalt+dunkel.

wo ist denn dein freund?

ich zahle in bar, wies überall geschrieben stand, vor der abfahrt wies der brauch + bin bereit. da kommt 1 junger mann angelaufen, nachm langen wandertag vielleicht bisschen kopflos, stürzt ins boot + fragt, in französischstem englisch, ob wir noch warten könnten auf seinen freund, der noch käme. nein, können wir nicht, sagt die bootsführerin, sie habe noch mehrere touren. ob er wieder aussteigen wolle? nein, also fahren wir los. ich bin erstaunt. aber ok.

mittendrin, vielleicht an der tiefsten stelle des sitojaure, stellt sich heraus, dass der junge mann kein bargeld hat, das habe der freund. ach so? ja dann könne sie nicht weiterfahren. tatsächlich stellt sie den motor ab + wir sehen uns im kreis alle an. was nun? ich habe fürs abitur aufm 2. bildungsweg französisch gelernt, aber das fach nach 1,5 jahren abgewählt, als ich f. kennenlernte + mit ihm/für ihn spanisch lernte, damit wir auch was zu reden hatten, was nach 1,5 jahren auch zu ende war, weil ich mich um die neuerworbene hiv-infektion kümmern musste. beide sprachen spreche ich nicht mehr. ich lerne jetzt schwedisch.

also sage ich ihr: “jag kan betala det.” (ich kann das bezahlen.) ich lege das geld aus, er könne es mir später überweisen. viele würden das hier so machen, sich gegenseitig aushelfen, sagt sie. ich weiß. ich würdes ihm sogar schenken, ich zahle die schuld ab, die ich in sitojaure vor 9 jahren durch die fehlplanung mitm essen aufgeladen. ich freue mich, dass ich was gutes tun kann. aber vielleicht ists auch nur egoistisch: ich will jetzt hier rüber.

(c) kaschpar

am anderen ufer wartet 1 riesenreisegruppe, über die sie die stirn runzelt: mit so vielen hat sie nicht gerechnet. ich zahle noch, dann versuche ich auszusteigen. auf gut glück strecke ich hand mit abgespreiztem finger aus + 1 mädchen ergreift sie. als ich sicher aufm steg stehe, kann ich loslassen + sie ansehen: tack ska du ha! die gruppe steigt nach+nach mit all den rucksäcken ins miniboot + ich kann nicht zusehen, wie der babykorb schaukelt. ich bin 1 memme im vergleich mit dieser frau.

so much moor

der franzose lässt sich mir meine iban geben, die trotz 2-maliger überprüfung falsch sein wird, was ich später erahne + dann weiß, als er mir 1 mail schreibt + um die richtige kontonummer bittet. er will noch heute bis auf den skierfe. ich staune erneut. das ist aber noch weit. es ist ja schon bald halb sechs. es wird ja aber auch nicht dunkel. nur kalt. er fragt mich, ob es 1 gute idee sei. ich stimme ihm vollkommen zu. wenn er das wolle, solle ers machen. wir sähen eh immer erst aufm weg, wies werde + obs klappe.

er läuft fluchs voran + ich trabe müde über die kaputten bohlen – die guten, neuen liegen verstreut in haufen neben dem weg. einzige verstreute einzelgänger*innen kommen mir noch entgegen, seit langem die 1. frauen wieder, die allein unterwegs sind. alle sind wir schon in unserem spätabendgehmodus, d.h. wir sehen kaum mehr etwas, 1 hat sogar kopfhörer drin, was ich vielleicht mal gern tun würde, aber ich spare ja an strom wie an allem.

mygghelvete (mückenhölle)

weil ich nicht am ufer schlafen wollte, hab ich nun die konsequenzen zu tragen: es gibt auf weiter strecke keinen zeltplatz mehr, nur moor, + wo moor ist, sind mücken. myrar+myggor. die sámi habe ich aus scham nicht mehr gefragt. da gehts auch schon wieder durch birkenwald den berg hinauf + an der 1. stelle, wo ich denke, da könnts passen, zelten die beiden männer mitn riesenrucksäcken, die ich für 1 paar halte. ich habe ihre stimmen schon gehört, abers für 1 hintergrundrauschen verkannt. recht viel weiter komme ich auch nicht mehr. 1 wenig abstand muss sein, dann aber schlage ich kurz vor der lichtung das zelt auf, weil der regen beginnt. weil ich schon so geübt im aufbau, bin ich so flink, dass alles drin ist, bevors anfängt zu schütten. glück gehabt. gegessen habe ich vorhin schon. also nur reinlegen.

was mir erst nicht auffällt: ich bin in der mückenhölle gelandet: mygghelvete. anscheinend vertreibt der regen das gefliege, aber 1 großteil sucht zuflucht unter meinem zelt, d.h. unterm außenzelt. alles, was durch die reißverschlüsse, die ich zum verstauen der sachen + rein+rauskriechen öffnen muss, ins innenzelt reinschlüpft, zerdrücke ich gnadenlos. tut mir leid. die wundversorgung dauert jetzt immer länger. ein bisschen waschen muss sein, aber viel kann man nicht im zelt machen mitm rest wasser, den ich heraufgeschleppt, es gibt keine quelle in der nähe. außerdem muss ich sparen, weil ich nicht weiß, wies morgen weitergeht. nicht jedes verzeichnete bächlein ist auch gut zum schöpfen. aber erstmal schlafen. ich bin todmüde. ich habe so viel erlebt. meine güte. erst der 7. tag!

danke liebes tagebuch

  1. – bayerisch hetzen: dahutz de niad: bau keinen unfall. nicht zu verwechseln mitm hutzen des ebenfalls oberpfälzischen kollegen, der das
    erzgebirgische hutzen kennt: “gesellig mit freunden oder nachbarn zusammen sitzen: hutzen gieh
    – sondern vielleicht eher an diesem fränkischen von rennen dran, dann wäre dahutz de niad = darenn de niad ↩︎
  2. als ich zum best of sweden eröffnungsabend ins babylon ging, erzählte der preisgekrönte regisseur ruben östlund von 1 seiner frühen filme mit 1 katastropheneinstellung, dass er über 1 schiffsunglück gelesen hätte, wo sich 1 asiatischer lehrer von seiner schüler*innengruppe getrennt + wie sehr andere wenige überlebt hätte, diesen überlebenstrieb im normalen alltag aufgrund der sozialen scham aber nicht aushielt, so dass er sich das leben nahm. ↩︎